Kaitlyn McGregor – nach Depressionen zurück auf dem Eis (2024)

Kaitlyn McGregor sitzt im Zug von Ebmatingen ZH nach Inzell. Die Eisschnellläuferin schaut gedankenversunken aus dem Fenster, lässt die Landschaft vorbeiziehen. Der Weg von zuhause an ihren Trainingsort in Bayern ist für sie Routine. Doch diesmal ist etwas anders. Ein Gedanke lässt sie nicht los. «Eigentlich will ich da gar nicht mehr hin.» Als sie ankommt, spürt sie: «Ich kann nicht mehr, ich höre auf.» Das ist im Winter 2014. Kurz davor hatte McGregor als 19-Jährige Olympia in Sotschi – als 37. der Welt bei 36 Plätzen – knapp verpasst. Nach dem geplatzten Traum zieht sie die Notbremse – noch bevor ihre Karriere zu fliegen begonnen hat.

Sechseinhalb Jahre später. McGregor schnürt sich erneut täglich die Schlittschuhe. Ihr Olympiatraum? Lebt wieder. Der Weg ins Leistungszentrum in Inzell? Gehört erneut zu ihrem Alltag. Das beklemmende Gefühl von einst? Ist Zuversicht und Vorfreude gewichen. Vieles ist anders im zweiten Karriere-Anlauf der 27-Jährigen. «Ich weiss nun, wer ich bin, was ich will – und dass mein Wert als Mensch nicht von Resultaten abhängt.»

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Bis zu diesen Erkenntnissen erlebt Kaitlyn McGregor eine schwierige Zeit. Das vorläufige Ende ihres sportlichen Weges ist der Beginn der Suche nach sich selbst. Sie hatte ihr ganzes Leben auf diesen einen Moment ausgerichtet. Symbolisch dafür taufte sie gar ihren Hund nach ihrem Traum: Sotschi! «Als ich es nicht schaffte, war ich enttäuscht und erschöpft. Ich spürte, dass ich den täglichen Kampf nicht mehr kämpfen mag, dass ich dasAlleinsein satt habe. Ich dachte, ich hätte die Leidenschaft für den Sport verloren. Ich wollte nur noch weit weg.»

Ihr damaliger Freund, Eishockeyspieler Ronalds Kenins, unterschreibt kurz darauf bei Vancouver. Die kanadisch-schweizerische Doppelbürgerin zieht mit ihm nach Übersee und nimmt in Absprache mit dem Verband eine einjährige Auszeit. Die erhoffte Erleichterung tritt aber nicht ein. «Ich hatte stets die Deadline im Kopf. Ich zählte die Monate, die Wochen, bis ich wieder ins Training musste.» Kurz vor dem Wiedereinstieg rebelliert ihr Körper. «Mein Mami würde sagen, ich hatte eine Depression.»

Mutter Faye McGregor erinnert sich gut an die Zeit. «Kaitlyn rief an und klagte über Schlafstörungen, Migräneanfälle, Bauchschmerzen und Hautausschläge. Da war für mich der Fall klar», erzählt sie und fügt an: «Es ist das Schlimmste, das eigene Kind so zu sehen. Kaitlyn war stets energiegeladen und lebensfreudig – plötzlich war das weg.» Ihre Tochter hört auf ihren Körper, tritt zurück – und holt sich die Hilfe einer Therapeutin.

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Die Affinität zum Eis wurde McGregor in die Wiege gelegt. Ihr Vater ist der kanadische Eishockeytrainer Mark McGregor, der den SC Herisau in den 90er-Jahren sensationell in die Nationalliga A führte. Seine Frau und Sohn Ryan begleiteten ihn in die Schweiz, in Herisau kommt Tochter Kaitlyn zur Welt. Beide Kinder beginnen mit Eishockey. Kaitlyn spielt stets in Bubenmannschaften, da es in diesem Alter keine Mädchenteams gibt, und fällt rasch durch ihre läuferischen Fähigkeiten auf.

Als es um einen Wechsel an eine Sportschule geht, bekommt sie eine Absage – weil es damals für Mädchen keine Nachwuchs-Nationalteams gibt, welche als Bedingung für die Aufnahme gelten. Da schlägt die Grossmutter vor, es mit Eisschnelllaufen zu probieren.Erste Versuche auf der Kunsteisbahn Dolder in Zürich missfallen Kaitlyn. «Ich dachte: Wie langweilig, allein im Kreis herumzufahren!» Sie macht weiter. Vor allem, weil sie schnell Fortschritte erzielt. «Eishockey liebte ich, weil ich im Herzen eine Teamsportlerin bin. Im Eisschnelllauf motivierten mich die Erfolge.» Nebenbei spielt sie weiterhin Eishockey und probiert zudem Synchron-Eislaufen aus. «Kaitlyn hatte eine Zeit lang drei verschiedene Paar Schlittschuhe – und ich verbrachte mein halbes Leben mit den Kindern auf Eisbahnen», erinnert sich die Mutter.

«Viele sagten: Was machst du, wenn du ein Bein brichst? Niemand fragte: Was machst du, wenn du den Spass verlierst, wenn es dir psychisch schlecht geht?»

Kaitlyn McGregor

Die Trainingsmöglichkeiten im Eisschnelllaufen sind in der Schweiz fast inexistent: McGregor trainiert auf dem Dolder oder dem Natureis in Davos. Doch die Winter und damit die Trainingszeiten werden immer kürzer. Und die Bahn in Zürich misst nur 240 Meter statt 400. Da es keine geeignete Infrastruktur gibt, sucht man hierzulande auch Trainingsgruppen vergebens, von finanzieller Unterstützung nicht zu reden. Als 16-Jährige setzt McGregor alles auf eine Karte und zieht ins Ausland.

Dank guten Resultaten kommt sie bei einem internationalen Team in Holland unter, später trainiert sie in Kanada und Deutschland. «Viele sagten: Was machst du, wenn du ein Bein brichst? Niemand fragte: Was machst du, wenn du den Spass verlierst, wenn es dir psychisch schlecht geht?» Die Zeit in Holland ist hart für sie: Heimweh, eine Gastfamilie, welche nicht viel von Sport versteht, kaum Vertrauenspersonen vor Ort. «Für die Trainer war ich auswechselbar. Bei Schmerzen hiess es: Denk nicht daran.» Das Geforderte setzt sie um: «Ich erwartete von mir, wie eine Maschine zu funktionieren, und lernte, meine Gefühle zu unterdrücken. Ich dachte: So läuft das im Sport. Wenn ich meine Ziele erreichen will, muss ich da durch.»

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Ihre Resultate geben ihr lange recht. An der Junioren-WM 2013 holt sie drei Medaillen – die ersten Podestplätze für das Schweizer Eisschnelllaufen an einem Grossanlass. Das Verpassen von Olympia in der ersten Elite-Saison ist ihr erster Misserfolg. «Ich hatte nicht die Werkzeuge, das emotional und psychisch zu verarbeiten.» Nachdem die Schweizer Frauen-Eishockey-Nati mit vielen ihrer ehemaligen Kolleginnen in Sotschi Olympiabronze holt, hadert sie noch mehr. «Ich dachte, ich sei den falschen Weg gegangen.» McGregor spricht ruhig, nachdenklich und ohne Groll. Sie möchte weder Schuld zuweisen, noch soll ihre Offenheit eine Abrechnung sein. «Ich wünschte mir, dass der Nachwuchs in diesem Bereich besser begleitet wird und alle offen über ihre Probleme sprechen können.»

Zur Familie hat Kaitlyn stets ein enges Verhältnis. Auch wenn sie zugibt, dass sie sich durch die intensive Förderung ihrer Eltern phasenweise unbewusst unter Druck gesetzt gefühlt hatte. «Heute weiss ich, dass sie nur möchten, dass ich glücklich bin.»

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Fünf Jahre bleibt McGregor dem Eisschnelllaufen komplett fern. In Kanada lässt sie sich zur Yoga-Lehrerin ausbilden, zurück in der Schweiz zur Ernährungsberaterin. Mit Inzell bleibt sie verbunden. Ihre Eltern fühlen sich im 5000-Seelen-Dorf so wohl, dass sie 2013 ein Haus bauen, mittlerweile das halbe Jahr über dort leben und ihre Leadership-Coachings und -Retreats anbieten.

Ende 2018 beschliesst Kaitlyn McGregor ohne Hintergedanken, in der Max-Aicher-Arena einige Runden auf dem Eis zu drehen. In der Halle angekommen, traut sie ihren Augen nicht: Sie trifft auf ein ganzes Schweizer Team mit mehreren Athletinnen und Athleten und Trainern. «Ich war vollkommen geschockt. Es war alles da, was ich mir immer gewünscht hatte!» Coach Kalon Dobbin, ein Neuseeländer, welcher mit Livio Wenger in den vergangenen Jahren internationale Erfolge gefeiert hat, überredet McGregor zu einem Comeback. Das Ziel: Die Olympiateilnahme mit der Frauen-Staffel 2026.

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Ein Jahr später steht McGregor wieder regelmässig auf dem Eis und spürt mehr Freude denn je: «Ich liebe die Schnelligkeit, die Geschmeidigkeit und den Flow auf dem Eis.» Zudem mag sie das Training mit den Teamkolleginnen Ramona Härdi, Vera Güntert und Livios Schwester Nadja Wenger.

Auch die Leistung stimmt. «Die Staffel machte in kurzer Zeit solch phänomenale Fortschritte, dass nun plötzlich schon Peking Thema ist», sagt Trainer Dobbin. Dafür müssen die vier Frauen, welche an der WM den 7. Platz belegten – allerdings in Abwesenheit einzelner Top-Nationen –, in den Weltcup-Rennen eine der acht schnellsten Zeiten laufen. Ein ambitioniertes Ziel, wie auch arrivierte Kollegen finden: «Als Livio Wenger uns beim ersten Trainingsrennen sah, sagte er zum Coach: Wenn sie es nach Peking schaffen, ist es ein Wunder! Und gleichzeitig dein grösster Erfolg!», erzählt Kaitlyn. Sie wirkt darüber nicht enttäuscht oder entsetzt, sondern amüsiert. Sie weiss: «Die Sportlerin ist nur ein Teil von mir.» Sie hat in ihrer zweiten Karriere bereits jetzt mehr gefunden, als sie gesucht hat.

Von Sarah van Berkel

am 26. November 2021 - 06:00 Uhr

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